Entwicklung der niederländische Gewerkschaftsstruktur
Vergleichbar mit der Echternacher Springprozession
Jeroen Sprenger*
Einleitung
"Die Suche nach einer idealen Struktur ist wie die Suche nach der Quadratur des Kreises", stöhnte Jan Mertens, der Vorsitzender der niederländische katholischen Gewerkschaften einmal. Die bestehende Struktur war nie ideal, Engpässe bekam man häufig zu spüren, aber Vorschläge hinsichtlich einer neuen Struktur bürgten in sich oft mehr Nach- als Vorteile. Pragmatiker wie er war, fügte er meistens gleich hinzu: "Wenn es nicht kann, wie es sein soll, dann soll es bloß sein, wie es nur kann."
Die Gewerkschaftsaktion entstand als Reaktion auf die Entwicklungen in den Unternehmen, bei denen für die Arbeiter wichtige Aspekte wie Entfaltungsmöglichkeiten, Einkommen, soziale Sicherung und Aufmerksamkeit für die Arbeitsqualität unter Druck zu stehen kamen. Die Gewerkschaftsmitglieder wollten über ihre Gewerkschaft nicht nur eine Alternative für den verloren gegangen "Schutz" haben, sondern auch in größerem oder geringerem Maße die Betriebszweige und Branchen einen von ihnen erwünschten Kurs nehmen lassen. Sie wollten also nicht bloß zuschauen, sondern auch proaktiv tätig werden. In einer derartigen dialektischen Entwicklung kann man selber nicht untätig bleiben. Die Gewerkschaftspolitik muss nicht nur ständig den begegneten Änderungen angepasst werden, sondern die eigene Struktur bedarf auch Anpassungen, um auf die strukturellen Änderungen in den Wirtschaftssektoren zu reagieren. Im vorliegenden Artikel werden die Entwicklungen innerhalb der niederländischen Gewerkschaften - insbesondere in der Bau- und Holzwirtschaft - beschrieben.[i]
Die Entwicklungen bis zum Zweiten Weltkrieg
Mit der Entwicklung der Industrie geht die Entstehung der Gewerkschaften einher. Weil diese industrielle Entwicklung in den Niederlanden erst spät - 50 bis 100 Jahre später als sonst wo in Westeuropa - richtig in Fahrt kommt, entwickeln sich auch die niederländischen Gewerkschaften später. Die Merkmale der ersten Gewerkschaften lassen sich aber wohl vergleichen. Berufstätige schließen sich zuerst lokal in Berufsverbänden mit starkem Gemütlichkeitscharakter - in sozialen und kulturellen Vereinigungen - zusammen. Später, wenn die industrielle Entwicklung immer offensichtlicher zur Untergrabung der sozialen Stellung der Arbeitnehmer, d. h. der Arbeiter und Handwerker, führt, entfachen sich diese Vereinigungen zunehmend zu Interessenverbänden.
Die verschiedenen Organisationen, die je länger je mehr die Merkmale einer richtigen Gewerkschaft haben, schließen sich lokal in gemeinsame Dachverbände(so genannten "Besturenbonden") zusammen, die auf lokaler Ebene die "allgemeinen Interessen" der Arbeitnehmer vertreten sollen. Zugleich bilden die lokalen Berufsverbände eine nationalen Föderation der Arbeitnehmer, die denselben Beruf ausüben. Diese zweigleisige Entwicklung - eine lokale Vereinigung zwischen örtlichen Arbeitnehmerorganisationen einerseits und einer landesweiten Vereinigung mit den Kolleginnen und Kollegen im selben Beruf andererseits - erfolgt in den Niederlanden ungefähr ab dem Jahre 1890. Zuvor wurden zwar schon Versuche unternommen, die sich aber nicht als lebensfähig herausstellten.
Im selben Zeitraum entsteht in der niederländischen Gesellschaft die "verzuiling", die weltanschauliche Gliederung der Arbeitswelt. Die katholische Gemeinschaft versucht, nach zwei, drei Jahrhunderten der Unterdrückung selbstbewusst einen eigenen Platz zu erobern. Auf diese Weise unterscheidet sie sich in der bis dahin vorwiegend protestantisch-christlichen Gesellschaft. Dies hat zur Folge, dass in dieser Gesellschaft Leute in den Vordergrund rücken, die gerade die protestantisch-christlichen Normen und Werte betonen möchten. So genannte allgemeine Vereinigungen verlieren demzufolge allmählich den Anspruch, als Dachverband tätig zu sein. Für die Gewerkschaftsaktion bedeutet dies, dass die protestantisch-christlichen und katholischen Gewerkschaften sich von den ursprünglichen Dachverbänden trennen. Sie können in diesem Zusammenhang rechnen mit der "Hilfe" des zunehmenden Einflusses der "Sozialdemokraten" auf diese allgemeinen Organisationen. So begründen sie auch ihre Behauptung, dass sie nicht länger in diesen Organisationen "zu Hause" sind. Die weltanschauliche Trennung in der niederländischen Gesellschaft bewirkt auf diese Weise zwischen 1890 und 1910 eine dreigleisige niederländische Gewerkschaftslandschaft.
Die Entwicklungen innerhalb den auf diese Weise entstandenen drei Gewerkschaftsbünden lassen sich aber durchaus vergleichen. Die Vereinigung der Kräfte in den Gewerkschaften auf lokaler und nationaler Ebene führt von 1905 bis 1910 in allen drei Gesinnungen zur Bildung eines jeweiligen nationalen Gewerkschaftsbundes, in dem sich die Gewerkschaften derselben Weltanschauung treffen. Ein solcher Gewerkschaftsbund ist der Ausdruck einer Zentralisierung und gleich nach dessen Gründung startet eine Konzentrationstendenz. "Es war nicht nur notwendig, in den landesweiten Gewerkschaften mehr Einheit zu stiften, sodass deren Aktionen übersichtlicher geleitet werden konnten, sondern außerdem ging es darum, den entstandenen nationalen Verbänden eine möglichst große Macht zu erteilen."[ii]
In diesem Zusammenhang muss erkannt werden, dass auf der nationalen Ebene immer mehr für die Arbeiter wichtige Themen auf der Tagesordnung stehen, vorläufig allerdings ohne bzw. mit nur einer sehr geringen Beteiligung der Arbeitnehmer selbst. Der Kampf um das allgemeine Wahlrecht war deshalb für die damaligen Gewerkschaften ein wichtiges Aktionsthema, neben der Beeinflussung der sozialen Gesetzgebung, die sich im selben Zeitraum entwickelt. In den Gewerkschaften spürt man den Wunsch oder die Notwendigkeit einer Zentralisierung und Konzentrierung, aber auch van Außen werden die Gewerkschaften in diese Richtung gezwungen. "Wenn du dich nicht mit Politik einlassen willst, musst du wissen, dass die Politik sich mit dir einlässt", haben verschiedene Generationen von Gewerkschaftsleitern ihren Mitgliedern vorgehalten. Zunächst um sie für das allgemeine Wahlrecht zu motivieren, später – wenn das Wahlrecht ab dem Jahre 1922 errungen ist - um sie aufzurufen, ihr Wahlrecht auch wirklich auszuüben.[iii]
Verbände, die die nationale Politik bzw. die täglichen Entwicklungen in ihren Sektoren beeinflussen möchten, brauchen Kontinuität. Aktionen für Verbesserungen und für neue Gesetze und Vorschriften sind eine Sache, darauf zusehen, dass die realisierten Vereinbarungen auch tatsächlich eingehalten werden und die Festigung der erworbenen Stellung eine andere. Eine spontane Bewegung zu einem ansprechenden Aktionsthema lässt sich relativ einfach organisieren. Auf diese Weise können wichtige Ergebnisse erzielt werden. Will man die Errungenschaften aber auch auf längere Sicht absichern und nicht ständig mit gewetzten Messern die eigenen Standpunkte erzwingen müssen, soll eine regelmäßige Rücksprache mit der Regierung und den Arbeitgebern stattfinden. Dafür ist eine starke Organisation, die sich nicht schnell einschüchtern lässt, notwendig. Diese Erkenntnis führt allmählich zum Zusammenschluss verwandter Berufsverbände, die zu klein sind, um dieser Forderung gerecht zu werden. So erfolgt 1912 im Algemeinem Dachverband die Gründung des Zentralen Bundes der Bauarbeiter, eine Fusion der Maurer- und Steinmetzgewerkschaften. Acht Jahre später erweist sich auch dieser Gewerkschaftsbund als weder Fisch noch Fleisch und bildet er gemeinsam mit der Zimmerergewerkschaft den Algemeinen Niederländischen Bauarbeitersbund. Im katholischen Gewerkschaftsbund hatten sich die Gewerkschaften der Zimmerer, Maler und Kalk- und Steinmetzen bereits 1917 zusammengeschlossen.
Diese Zusammenschlüsse ändern aber keineswegs das gewerkschaftliche Organisationsprinzip, denn der Beruf bestimmt die Einteilung der Gewerkschaften. Je weniger die Gewerkschaften aber einzelne Gruppen vertreten, umso größer wird das Risiko, dass sich ihre Tätigkeitsbereiche überschneiden. Gehören die im Dienste einer Gemeinde berufstätigen Pflasterer und Gasinstallateure zum Werbungsbereich der Gewerkschaften der Gemeindearbeiter? Sind Milchmänner "Transportarbeiter" oder Landarbeiter bzw. Molkereiarbeiter? Sollten Trikotagenarbeiterinnen zur Textilarbeiter- oder zur Schneidergewerkschaft gehören? Und was ist mit den Kakaozubereitern, sind sie in einer Bäckergehilfen- oder Werksarbeitergewerkschaft zu Hause? Das sind Fragen, die in einer Zeit, in der jede Gewerkschaft jedes Mitglied wirklich braucht, zu vielen Konflikten zwischen den Gewerkschaften führt, deren Lösung die Leiter der Gewerkschaftsdachverbände viel Zeit widmen müssen.
Eine endgültige Lösung gibt es aber nie und dies ist auch nicht erstaunlich, weil die Meinungsverschiedenheiten häufig auf die Entwicklungen in den Unternehmen und die Laufbahnentwicklung der Arbeitnehmer zurückzuführen sind. Es werden neue Unternehmen gegründet, in denen neue Arbeitsverfahren angewandt werden, die die Arbeiter vor neuen Herausforderungen setzen. Man denke hier beispielsweise an den Aufstieg der Kunstseidewerke. Handelt es sich hier um die aus Kunstseide hergestellten Textilien oder vielmehr um den chemischen Prozess, mit dem die Kunstseide gefertigt wird? Sollten sich diese Arbeitnehmer einer Textil- bzw. einer Werksarbeitergewerkschaft anschließen?
Berücksichtigt man die individuellen Aufstiegsmöglichkeiten eines Arbeiters - wenn ein Arbeitgeber einem Molkereiarbeitnehmer die Möglichkeit bietet, als Milchmann tätig zu werden -, muss dieser dann umsteigen und Mitglied einer Transportarbeitergewerkschaft werden?
Die häufig auftretenden Grenzfälle in den berufs- bzw. gewerbemäßig organisierten Gewerkschaften bilden nicht den einzigen Anlass für das Anstreben einer anderen Struktur. Je nachdem sich die Gewerkschaften generell eine Stellung in der Gesellschaft errungen hatten, entfachten sich Auffassungen über eine neue Ordnung des wirtschaftlichen Geschehens als Alternative zum Kapitalismus. In allen weltanschaulichen Sparten der niederländischen Gesellschaft arbeitete man nach dem Ersten Weltkrieg an Alternativen, auch wenn diese lange Zeit nicht mit einander im Einklang waren. Die konfessionellen Organisationen betonen, dass sowohl Arbeitgeber wie Arbeitnehmer möglichst frei - ohne Einmischung der öffentlichen Hand - untereinander ihre Geschäfte abwickeln sollten. Die allgemeinen "sozialdemokratisch ausgerichteten" Organisationen wollen dem Staat eine größere Rolle beimessen. Unter Berücksichtigung der vom Staat vorgegebenen Einschränkungen und im Einklang mit den Richtlinien desselben Staates können die Arbeitgeber und Arbeitnehmer über betriebliche Angelegenheiten verhandeln.
Trotz der oben dargelegten Unterschiede ergeben die Alternativen alle insgesamt eine ähnliche Struktur der Betriebswirtschaft. Die einzelnen Unternehmen werden Betriebszweigen zugeteilt, für die ein sozialwirtschaftlicher Rat als Dachverband vorgeschlagen wird. Dieser Gedanke wird gegen 1918 gehegt, aber in der zweiten Hälfte der 20er Jahre verzichtet man mehr oder weniger auf diese Idee. Erst anlässlich der schweren Wirtschaftskrise in den 30er Jahre greift man die Idee wieder auf, und wird sie in die Praxis umgesetzt. Im Jahre 1933 wird der "Bedrijfsradenwet" (Gesetz der paritätische Ausschüße auf Sektorebene) verabschiedet, den man als bescheidene Ausarbeitung der Überlegungen vom Anfang der 20er Jahre betrachten kann. Jedenfalls ist das Ergebnis nicht in weitester Entfernung dasjenige, was sowohl die konfessionellen wie sozialdemokratischen Gewerkschaften vor Augen hatten. Das Gesetz sah nur die Möglichkeit vor, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam betriebszweigeigene Räte für eine organisierte Rücksprache über eine umfassende Reihe sozialwirtschaftlicher Themen gründen würden. Bis zum Jahre 1940 wurden 21 solche Ausschüße eingerichtet. Kein einziger war erfolggekrönt. Im Standardwerk "Arbeidsverhoudingen in Nederland" (Arbeitsverhältnisse in den Niederlanden) kommen die Autoren, John Windmuller und Cees de Galan, zum folgenden Schluss: "Im Nachhinein waren sie immer von Bedeutung, weil sie und das Gesetz, das sie ermöglichte, einen Präzedenzfall und die Grundlage für neue Versuche schafften, nach dem Krieg eine wirksame und umfassende öffentlich-rechtliche korporatistische Organisation der Wirtschaft herbeizuführen."[iv]
Das Betriebsausschüßegesetz stößt die Gewerkschaften einmal mehr mit der Nase auf ihre unvollkommene Struktur. Dank der Einsetzung eines Ausschüße im Sektor können die Gewerkschaften mit den Arbeitgeberverbänden über die Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehungen, die Berufsbildung, die Beschäftigung, die Fondsbildung, und die Geltendmachung der sozialen Gesetze verhandeln. Welche Gewerkschaften sollten aber an dieser Rücksprache teilnehmen? Bei den Handarbeitergewerkschaften gibt es ziemlich wenig Probleme, denn ihr Arbeitsfeld beschränkt sich meistens auf eine geringe Zahl von Betriebszweigen. Bei den Angestellten ist die Lage grundsätzlich anders, weil ihr Arbeitsfeld sich auf fast alle Betriebszweige erstreckt. Die Gewerkschaften drängen deshalb darauf, auch den Angestelltengewerkschaften in den Betriebsausschüßen einen Platz einzuräumen. Der Minister der sozialen Angelegenheiten und die Arbeitgeber sind aber gar nicht davon begeistert.
Ein dritter Anreiz für die Revision der Struktur der niederländischen Gewerkschaften entspricht der Entwicklung der Sozialversicherung. Die Gewerkschaften gründen die ersten Vorkehrungen für eine Beihilfe bei Krankheit, Arbeitslosigkeit oder für Rentner. Auf diese Weise genießen die Gewerkschaften einer gewissen Kontinuität. Wenn die gewerkschaftliche Mitgliedschaft mit Beihilfen verbunden ist, wird man nicht zu schnell aus der Gewerkschaft ausscheiden, so meint man. Am Anfang ist die Verwaltung dieser Fonds einzig und alleine eine Angelegenheit der Gewerkschaften. Dies steht aber keineswegs anderen Überlegungen über die staatliche Pflege für Leute im Wege, die ohne deren Schuld nicht am Arbeitsprozess teilnehmen und deshalb kein Einkommen erwerben können. Infolgedessen akzeptiert die Regierung auf Drängen der Gewerkschaften und deren geistesverwandter Politiker im Jahre 1917 die Verantwortung für die Arbeitslosenunterstützung. Seitdem werden die Arbeitslosenbeihilfen der Gewerkschaften um staatliche Leistungen ergänzt.
Für das Krankengeld wird vor dem Zweiten Weltkrieg keine umfassende Regelung mehr in die Praxis umgesetzt. Wohl aber bewegen sich in diesem Zusammenhang die Meinungen über die Aufgabenverteilung zwischen dem Staat und den Sozialpartnern in derselben Richtung. In sozialdemokratischen Kreisen vertraut man sich dem Gedanken an, dass die Betriebszweige beim Ausbau eines Sozialversicherungssystems eine Rolle zu spielen haben. Die Struktur der Gewerkschaften muss dann allerdings dieser Rollenverteilung entsprechen.
Im Jahre 1919 wird in der protestantisch-christlichen Gewerkschaftsbewegung ein Ausschuss eingerichtet, der sich mit den Konflikten oder Grenzfällen zwischen den verschiedenen berufs- bzw. gewerbeorientierten Gewerkschaften beschäftigen muss. Es ist nicht erstaunlich, dass diese Diskussion gerade im protestantischem Gewerkschaftsbund anfängt, denn im kleinste Dachverband mit den kleinsten Gewerkschaften bekommt man die notwendige Gewährleistung der Kontinuität am ersten zu spüren. Es ist auch nicht überraschend, dass gerade die Gewerkschaft der Werks- und Transportarbeiter der Katze die Schelle umhängt, denn sie wird am häufigsten mit solchen "Grenzfällen" konfrontiert. Der vom Ausschuss 1921 unterbreitete Vorschlag, eine Gewerkschaft für jeden Betriebszweig einzurichten, geht für den Gewerkschaftsbund allerdings viel zu weit. "Die Generalversammlung, dem im Bericht dargelegten Hauptgedanken zustimmend, dass an erster Stelle das Unternehmen für die Organisationsform der Gewerkschaften ausschlaggebend sein sollte, ist aber der Meinung, dass die Untersuchung dieser Frage in allen seinen Bestandteilen noch keinen vollständigen Einblick in die Einzelheiten vermittelt hat, sodass eine Entscheidung auch angesichts der wechselnden betrieblichen Verhältnisse nicht in jeder Hinsicht verbindlich sein kann."[v] Als Kompromiss wird ein Ausschuss für Grenzfälle eingerichtet, der Fall zu Fall Streitigkeiten lösen kann. Für die Lösung der zugrunde liegenden Problematik ist es aber noch nicht an der Zeit.
Wenn man die Größe berücksichtigt, ist die katholische Gewerkschaftsbewegung die zweite. Dort wird die Frage der Struktur im Jahre 1938 einem Ausschuss unterbreitet, der ein Jahr später eine Organisation aufgrund des Unternehmens befürwortet. Für die Ermittlung des Unternehmens geht man vom Produkt – nicht also von der Arbeitsmethode - aus. Der Ausschuss hat auch eine Lösung für die "sektorübergreifenden Unternehmen". Verschiedene davon sind seit dem Ersten Weltkrieg zur Blüte gekommen. Philips z. B. beschränkt sich nach einiger Zeit nicht mehr auf die Herstellung von Glühbirnen. Die Arbeitnehmer des Papierwerks von Philips müssten genauso wie die Arbeitnehmer der Glühbirnenwerke in der Werksarbeitergewerkschaft organisiert sein. Die Möbeltischler der Ladenkette Vroom & Dreesmann aber gehören weiterhin zum Arbeitsfeld der Möbeltischlergewerkschaft und die Mitarbeiter der Hausdruckereien fallen weiterhin in den Zuständigkeitsbereich der Grafikergewerkschaften. Diese Ergebnisse kann man als einen Kompromiss betrachten, demzufolge die Kräfteverhältnisse in der katholischen Gewerkschaftsbewegung sichtbar werden. Die Laden- und Büropersonalgewerkschaften sind weniger stark als die Möbeltischler- und Grafikergewerkschaften.
Der Ausschuss brachte auch einen Vorschlag für die Arbeitnehmer heraus, die häufig vom einen Betriebszweig zum anderen hinüberwechseln. Diese müssten Mitglied der Gewerkschaft sein, die den Sektor vertritt, in dem sie am häufigsten berufstätig sind. Es handelt sich hier beispielsweise um Erdarbeiter, die das eine Mal an kulturtechnischen Arbeiten, ein anderes Mal an Wasser- und Straßenbauarbeiten beteiligt sind. Für die Angestellten schlug der Ausschuss vor, die Organisation auf Grund des Berufes aufrechtzuerhalten. Ihre Gewerkschaften mussten aber wohl in Betriebszweigen unterteilt werden, die mit korrespondierenden Handarbeitergewerkschaften solidarisch zusammenarbeiten mussten.
Im März 1940 wird der Bericht besprochen, aber noch nicht angenommen. Es wird beschlossen, ihn gemeinsam mit den anderen Dachverbände zu besprechen. Vor Mai 1940 findet diese Besprechung aber nicht statt.[vi]
Im größten - sozialdemokratisch ausgerichteten - Gewerkschaftsbund - diskutiert man wohl über die erwünschte Struktur. Weil die Gewerkschaften dort etwas größer sind, ist man weniger von der Notwendigkeit überzeugt. Der Zusammenschluss, der in den konfessionellen Gewerkschaftsbünden stattfindet, ereignet sich in einigen Fällen noch nicht im größten Gewerkschaftsbund. Zimmerer, Maurer, Maler, Gipser, Pflasterer und Baggerer sind im katholischen und (protestantisch-)christlichen Gewerkschaftsbund bald in einer Bauarbeitergewerkschaft zusammengeschlossen. Im sozialdemokratischen Gewerkschaftsbund kommt es nur zu einem Zusammenschluss der Zimmerer, Maurer und Natursteinbearbeiter. Bis zur deutschen Besatzung der Niederlande bestehen weiterhin einzelne Gewerkschaften der Maler, Gipser und Pflasterer. Versuche, die Kräfte zu vereinen, scheitern jedes Mal. Letzten Endes erzwingt der Besatzer deren Zusammenschluss. Die Baggerer werden erst in den 50er Jahren in die Bauarbeitergewerkschaft aufgenommen.[vii]
In der nationalsozialistischen Vorstellung sind die Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehungen stark zentralisiert. In dieser Zentralisierung ist kein Platz für eine betriebszweigorientierte Gestaltung. Der Besatzer erzwang aus diesem Grund nicht nur die Zusammenlegung der Gewerkschaften in den von ihm definierten Betriebszweigen, sondern er verlangte auch eine stärkere Zentralisierung innerhalb der Gewerkschaftsbewegung selbst. Nicht die Gewerkschaften, sondern der Verbandsvorstand musste der Herr im Dachverband sein, hieß es. Selbst im sozialdemokratisch ausgerichteten Gewerkschaftsbund, in dem solche Auffassungen gehegt wurden, wenn es um die Macht des Staates ging, war dies aber nicht der Fall. Schließlich wollte der Besatzer nach dem Beispiel der deutschen Arbeitsfront alle niederländischen Gewerkschaften am 1. Mai 1942 im "Niederländischem Arbeitsfront" (NAF) vereinen. Im Jahre 1933 waren die deutschen sozialdemokratischen und christlichen Gewerkschaften bereits in die (deutsche) Arbeitsfront zusammengelegt worden. Die Popularität der NAF war besonders gering. Soweit die Gewerkschaften nicht bereits ihre Mitglieder zum Austritt bewegt hatten - die konfessionellen Gewerkschaften hatten dazu seit Juni 1941 aufgerufen, als sie unter deutsche Leitung gestellt wurden -, schieden jetzt sehr viele Mitglieder aus diesen Gewerkschaften aus. Nach dem Zweiten Weltkrieg war übrigens die Tatsache, dass man nach dem 1. Mai 1942 weitergearbeitet hatte, ein Grund, sich vor einem Säuberungskommission verantworten zu müssen.
Als die meisten Gewerkschaftsführer in den Untergrund gingen, wurden ihre Verhandlungen aber nicht eingestellt. Sie wussten einander zu finden und sprachen weiter über die erwünschte gewerkschaftliche Struktur nach der Befreiung. Die Leiter der Gewerkschaftsbünde trafen sich im Geheimen auch mit den Leitern der Arbeitgeber. In diesen Verhandlungen wird die Grundlage für die Struktur der Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehungen nach dem Krieg festgelegt, die dann später als "Poldermodell" international Furore machen würde. Um die Macht der Gewerkschaften in dieser Struktur zu optimieren, werden Gedanken über eine angemessene Organisationsform der Gewerkschaftsbewegung in Rücksprache mit den Gewerkschaftsleitern näher ausgearbeitet. Zugleich entwickelt sich in kommunistischen Kreisen der Gedanke einer Einheitsgewerkschaft, auf Grund dessen erstmals der dreigleisigen Gewerkschaftslandschaft ein Ende zu bereiten sei.
Nach dem Zweiten Weltkrieg
Nach der Befreiung im Mai 1945 wird der Wiederaufbau der Gewerkschaften energisch in Angriff genommen. Gleichzeitig mit der Wiedereinrichtung der "alten" Gewerkschaftsbünde und Gewerkschaften wird ein "Raad van Vakcentralen" (Rat der Gewerkschaftsbünde) gegründet, in dem die unterschiedliche Dachverbände ihre Zusammenarbeit gestalten werden. Einer der ersten Beschlüsse ist die Gründung der "Commissie tot onderzoek van het vraagstuk der bedrijfstakgewijze organisatie der arbeiders" (Ausschuss zur Untersuchung der Frage der sektororientierten Organisation der Arbeiter). Bereits nach einigen Monaten veröffentlicht dieser Ausschuss seine Befunde.[viii] Der Ausschuss ist nicht einstimmig. Die Vertreter der Beamten-, Werksarbeiter- und Holzbearbeitergewerkschaften haben "Meinungsverschiedenheit zu wichtigen Punkten", die im Übrigen nicht eingehend erläutert werden. Angesichts der Gewerkschaften, die sie vertreten, liegt es auf der Hand, dass sich diese "wichtigen Punkte" auf die Auswirkungen auf ihre Verbände beziehen. Trotz der Bedenken in den Reihen des Ausschusses werden dessen Empfehlungen im Laufe des Jahres 1946 von allen Gewerkschaften akzeptiert. Damit ist aber die Umsetzung noch nicht realisiert.
Die Einführung der betriebszweigorientierten Organisation bedeutet die Aufhebung der alten Gewerkschaften, die Übertragung der Mitglieder von der einen in die andere Gewerkschaft und die Bildung neuer Gewerkschaften. Diese tief greifende Neuorganisation schmerzt auf allen Ebenen der Gewerkschaften, aber mancher Gewerkschaftsleiter hält es für eine "moralische Verpflichtung, bei der Ausführung eines Beschlusses der Gewerkschaften behilflich zu sein".[ix] Am schwierigsten verläuft die Umsetzung im katholischen Gewerkschaftsbund. Die Techniker-, Werkmeister-, kaufmännischen, Büro- und Ladenangestellten betreiben sowohl intern wie extern Opposition. Sie entziehen sich der internen Rücksprache und lassen in der Öffentlichkeit kaum eine Gelegenheit entgehen, um ihre Ablehnung der betriebszweigorientierten Organisation bekannt zu machen. Im Jahre 1951 unterbreiten sie - ohne Berücksichtigung des Gewerkschaftsbundes - ihr Anliegen den niederländischen Bischöfen. Es dauert bis Anfang der 60er Jahre (!), ehe die Bischöfe einen Standpunkt abgeben.
Das Ergebnis dieser Kontroverse ist die Gründung einer neuen Gewerkschaft für Beamte, leitende Angestellten und Führungskräfte, der alle Arbeitnehmer in mittleren und leitenden Funktionen beitreten können. Schon bald setzen sich Vertreter dieser Gewerkschaft in verschiedenen Betriebszweigen mit den Vertretern der Sektorgewerkschaften um den Verhandlungstisch. Auf diese Weise wurde 25 bis 30 Jahre nach seiner Verfassung der Bericht über die sektororientierte Organisation im katholischen Gewerkschaftsbund in die Praxis umgesetzt. Die Betriebszweige der Angestelltengewerkschaft würden solidarisch mit den in Sektorgewerkschaften umgebildeten Handwerkergewerkschaften zusammenarbeiten. Diese Zusammenarbeit würde keine zehn Jahre bestehen. Wenn sich der katholische und der sozialdemokratische Gewerkschaftsbund 1976 in einer Föderation zusammenschließen, ist dies für die Gewerkschaft der Beamten und Führungskräfte das Zeichen, aus dem katholischen Gewerkschaftsbund auszuscheiden. Sie wird später den Kern eines neuen Gewerkschaftsbundes bilden. Weil der protestantisch-christliche Gewerkschaftsbund nicht einer Föderation mit den anderen Gewerkschaftsbünden beitreten wollte, geschweige denn in die Fusion am 1. Januar 1982 aufzugehen, bleibt die niederländische Gewerkschaftslandschaft weiterhin von drei Strömungen gekennzeichnet.[x]
"Het blauwzwarte boekje" (Das schwarzblaue Büchlein), wie der Bericht des "Ausschusses zur Untersuchung der Frage der sektororientierten Organisation der Arbeiter" gemeinhin heißt, hat die Struktur der Gewerkschaften - eigentlich bis zum heutigen Tage - eingehend beeinflusst. Damit war das letzte Wort aber noch nicht gesprochen. Den Leitlinien des "Büchleins" entsprechend schließen sich viele Gewerkschaften zusammen, wenn diese in einem bestimmten Betriebszweig zu klein geworden sind. Einer der Gründer der niederländischen Gewerkschaftsbewegung, die mächtige Diamantbearbeitergewerkschaft, fusioniert Mitte der 50er Jahre mit der Metallarbeitergewerkschaft. Anfang der 70er Jahre bilden die Metallarbeitergewerkschaft, die Werksarbeitergewerkschaft und die Textilarbeitergewerkschaft den "Industriebond" ("Industiegewerkschaftsbund"). Die Baugewerkschaften fusionieren mit den Möbel- und Holzgewerkschaften. Die Gewerkschaften des Hafenbetriebs, des Transportsektors und der Eisenbahn schließen sich im "Vervoersbond" ("Gewerkschaftsbund Transport und Verkehr") zusammen. Auch wenn ab dem Jahre 1976 über die Gewerkschaftsbünde hinweg eine engere Zusammenarbeit angestrebt wird - die weltanschauliche Trennung der niederländischen Gesellschaft lässt allmählich nach -, bildet das "Schwarzblaue Büchlein" einen wichtigen Leitfaden. Es werden wohl aber Stimmen laut, anders vorzugehen, aber den Korb, der André Kloos, der populäre Präsident des sozialdemokratischen Gewerkschaftsbundes, Ende der 60er Jahre von seinen Gewerkschaften bekommt, verdirbt vielen Gewerkschaftsleitern den Mut, eine grundlegende Diskussion über die Struktur in die Wege zu leiten.[xi]
Kloos schlägt vor, den Gewerkschaftsbund in eine einheitliche ungeteilte Organisation umzubilden. Der Gewerkschaftsbund zählt nicht ebenso viele Mitglieder wie es Gewerkschaften gibt, aber alle Mitglieder sind direkt Mitglied. In dieser Organisation werden die Interessen der Mitglieder von Betriebszweigsparten vertreten, die ungefähr mit den alten Sektorgewerkschaften übereinstimmen. Der große Unterschied besteht darin, dass die Mitglieder keinen Mitgliedsbeitrag an die Gewerkschaft zahlen, die ihrerseits dann wieder einen Teil an den Gewerkschaftsbund entrichtet, sondern dass die Mitglieder direkt an den Gewerkschaftsbund zahlen. Der Vorstand des Gewerkschaftsbundes stellt den Betriebszweigsparten einen Haushalt zur Verfügung. Neben der praktischen Notwendigkeit einer wirtschaftlicheren Anwendung der Mitgliedsbeiträge sieht Kloos in den schnellen gesellschaftlichen Entwicklungen einen Anlass, seinen Vorschlag zu befürworten. "Die Gesellschaft ist in Entwicklung: die einen Betriebszweige erweitern sich, die anderen schrumpfen, manche sind sogar in ihrer Existenz bedroht. Wir müssen damit rechnen, dass Leute in zunehmendem Maße vom einen Betriebszweig zum anderen und vom einen Beruf zum anderen hinüberwechseln werden. Wir müssen uns fragen, ob vor diesem Hintergrund die heutige - statisch aufgefasste, denn auf dem bestehenden Betriebszweig basierende - Organisationsform beibehalten werden kann.
Ende der 30er Jahre, d. h. 20 bis 25 Jahre nach der Befreiung, kann Kloos in dieser Hinsicht viele Beispiele zitieren. Das niederländische Diamantgewerbe, das von Juden beherrscht wurde, war nach dem Krieg sehr geschwächt. Deshalb ging die Diamantgewerkschaft in die Metallgewerkschaft auf. Um diese Zeit auch beschloss die niederländische Regierung, die Bergwerke zu schließen, sodass die Bergarbeitergewerkschaft keine Existenzberechtigung mehr hatte. Die Textilwerke waren zwar noch voll ausgelastet, aber unter der Leitung des späteren Nobelpreisgewinners Jan Tinbergen fing bereits die Diskussion über die Verlegung der Produktion in die Entwicklungsländer an. Im Schiffbau meldete sich ein schwerer Wettbewerb mit Japan an und dieser hatte selbstverständlich verheerende Folgen. Und auch die Großunternehmen wurden je länger je heterogener. Die Eröffnung des europäischen Marktes zwang zur Großproduktion und förderte - nicht nur in den herkömmlichen Betriebszweigen - zahlreiche Unternehmenszusammenschlüsse.
Diese wachsende Dynamik der Unternehmen lässt auch die Laufbahn der Arbeitnehmer nicht unberührt. Die Arbeitnehmer wechseln immer öfter den Beruf und den Betrieb, manchmal unter dem Zwang einer Betriebsstilllegung oder weil der alte Beruf verschwindet, manchmal auch wegen er infolge dieser Dynamik gebotenen neuen Chancen. Eine dieser Nachkriegsentwicklungen ist auch die immer größere Entfernung vom Arbeitsplatz zum Wohnort. Viele Wohnviertel waren ursprünglich um die Industriezentren und Werke herum gebaut worden. Nach dem Zweiten Weltkrieg steht die Erweiterung derselben Industrie nicht selten im Widerspruch zu den Erkenntnissen mit Bezug auf gesundes Wohnen. Neue Wohnviertel entstehen weiter weg vom Arbeitsplatz, bessere (öffentliche) Transportmöglichkeiten halten die Reisezeiten und -kosten innerhalb vertretbarer Grenzen. Diese Entwicklung hat aber einen verderblichen Einfluss auf die Ortsverbaende der Gewerkschaft, denn die Homogenität nimmt ab. Als Reaktion entwickelt sich die Aktion in den Betrieben. Nicht der Wohnort, sonder der Betriebszweig oder der Betrieb ist für die Gliederung der Gewerkschaften ausschlaggebend. Es scheint eine logische Folge des betriebszweigorientierten Aufbaus der Gewerkschaften, aber eine wirkliche Verbesserung hat dies nicht mit sich gebracht. Die schnell aufeinander folgenden Änderungen in der Laufbahn eines Arbeitnehmers erschweren massiv die Kontinuität der Gewerkschaftstätigkeit in den Betrieben, die Bildung einer Gegenmacht oder die ständige Besetzung der Betriebsratssitze.
Die Fortsetzung der Strukturfrage
Aus zwei Gründen müssen die Gewerkschaften in den Niederlanden weiterhin der Strukturfrage ihre Aufmerksamkeit widmen. Einerseits muss die Struktur derart sein, dass die Kräfte möglichst zweckmäßig eingesetzt werden können, sodass von Zeit zu Zeit ansprechende Ergebnisse erzielt werden können. Andererseits muss die Struktur - selbstverständlich aber auch die Kultur - die Arbeitnehmer dermaßen anziehen, dass sie in großer Zahl beitreten wollen. Wenn man diese Ausgangspunkte berücksichtigt, muss man feststellen, dass die Struktur bis heute Mängel aufweist. Die heutige Struktur ist unverkennbar besser den von den Gewerkschaftbewegung zu bewältigen Aufgaben gewachsen. Auf nationaler Ebene ist sie ein die Arbeitnehmer vertretender Gesprächspartner, den die Arbeitgeber und die Regierung nicht außer Acht lassen können, auch wenn der gewerkschaftliche Organisationsgrad kaum 25 v. H. beträgt. Auf diese Weise beeinflusst die Gewerkschaft eindeutig die soziale Gesetzgebung und die Bildung der Rahmen, innerhalb derer für jeden Betriebszweig die Tarifpolitik ausgefüllt werden kann. In vielen Betriebszweigen - vor allem dort, wo der gewerkschaftliche Organisationsgrad über dem Landesdurchschnitt liegt, wie im oeffentlichem Dienst und in der Bauwirtschaft - kann die Struktur auch nicht ignoriert werden. Die Beeinflussung der Arbeitsbedingungen, der betriebszweigeigenen Rentensysteme, der Berufsbildung und der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen ist eindeutig groß. Die Befürchtung, dass etablierte Machtpositionen untergraben werden, verhindert eine gediegene Lösung der Mängel der Struktur.
Wer die niederländische Gewerkschaftsbewegung einer eingehenden Untersuchung unterwirft, stellt fest, dass sie in den Sektoren - soweit sie noch bestehen -, in denen sie vor 150 Jahren ihren Vormarsch gestartet hat, immer noch sehr stark ist. Das ist sicherlich der Fall in den Sektoren - wie der Hafenbetrieb, bestimmte Industriesektoren, die Bau- und Holzwirtschaft -, in denen die Handarbeit immer noch dominiert. Sie ist immer noch schwach vertreten unter den Angestellten und den Arbeitnehmern in den neuen Sektoren. Vor zehn, fünfzehn Jahren stellt der größte Gewerkschaftsbund, FNV, in den die katholischen und sozialdemokratischen Gewerkschaftsbünden aufgegangen sind, fest, dass sein Mitgliederbestand immer noch den Arbeitsmarkt der 50er Jahre widerspiegelte. Seitdem wurden intensiv Versuche unternommen, dies zu ändern. Der Erfolg dieser Bemühungen ist aber alles andere als überzeugend.
Das Baugewerbe zeigt, wie schwierig es für die Gewerkschaften ist, den eigenen Schatten zu übersteigen. Die betriebszweigorientierte Organisationsform müsste dazu führen, dass auch die Arbeitnehmer in den Büros der Bauunternehmen einer Baugewerkschaft beitreten. Ziemlich lange hielten die Bauarbeiter die Kolleginnen und Kollegen im Büro für die Fürsprecher ihres Arbeitgebers. Letztere sollten deshalb kein Mitglied in ihrer Gewerkschaft sein, so meinten sie. Bis tief in die 80er Jahre hinein spürte man diese Gefühle, als die Werbung der Poliere, leitende Angestellten und Verwaltungskraefte auf der Tagesordnung stand. Und auch die Angestellten fragten sich - wenn sie sich eine Mitgliedschaft einer Gewerkschaft überlegten -, ob sie sich im Baugewerbe zu Hause fühlen würden. Wer vom Zimmerer zum Polier befördert worden war, blieb oft "hängen". Auch diejenigen, die mehr oder weniger weltanschaulich inspiriert waren, bekannten sich zur Gewerkschaft. Ein richtiger Durchbruch des Angestelltenbereichs fand aber nie statt. Die maskuline Kultur in der Baugewerkschaft stand auch dem Einstrom von Frauen im Wege. Der Arbeitsmarkt der Bauarbeiter wird immer kleiner - die Produktivität nimmt zu, die Aufträge gehen zurück -, aber es gelingt nicht, einen Ausgleich unter den Büroangestellten im Baugewerbe zu realisieren. Auch ein höherer Organisationsgrad im verwandten Holzsektor wurde nicht erreicht. Die mächtige Gewerkschaft des Baugewerbes bleibt zwar mächtig, allerdings für einen immer kleineren Bereich der Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehungen.
Im Jahre 1997 beschlossen vier FNV-Gewerkschaften zu einer sofortigen Fusion. Die Industriegewerkschaft, die Dienstleistungsgewerkschaft, die Gewerkschaft Transport und Verkehr, und die Gewerkschaft Nahrung und Genussmittel wollten ihre Kräfte vereinen und auf diese Weise versuchen, die in mittlerweile schrumpfenden Sektoren eroberte Kraft auf die Wachstumssektoren zu übertragen, in denen die Gewerkschaften kaum vertreten waren. Sie versuchten in dieser Weise sich der lähmenden Diskussion über die Zukunft der Gewerkschaften zu entziehen. Die Idee war gut, die Ausarbeitung aber wenig durchdacht. Den Fusionsproblemen mussten die Gewerkschaftsvorsteher viel Aufmerksamkeit widmen und diese Probleme knabberten auch erheblich am umfangreichen finanziellen Vermögen. Erst im Laufe des Jahres 2003 konnte den jahrelang anhaltenden Verlusten Einhalt geboten werden. Anfangs war die Baugewerkschaft sehr enttäuscht und eigentlich besonders verärgert, weil man sie nicht zur Fusion eingeladen hatte. Angesichts des nachträglichen Ablaufs dieser Fusion wird sie dieser Enttäuschung mittlerweile wohl los sein.
Die Folge der schwierigen Fortsetzung des Fusionsprozesses ist aber schon, dass man jetzt auf die gemeinsame Unterkunft der FNV und der Einzelgewerkschaften, die im Laufe der Jahre 2004 und 2005 hätte stattfinden sollen, verzichtet hat. Die Erwartung, dass diese gemeinsame Unterkunft den Ansatz einer weiteren Zusammenarbeit zwischen den FNV-Gewerkschaften bilden könnte, ist somit verschwunden. In gleicher Weise war der Ansatz einer Zusammenarbeit im Bereich der Dienstleistungen an die Mitglieder in den vergangenen Jahren noch vor dem richtigen Start abgeblasen worden. Es drängt sich ein Vergleich zwischen der Frage der Struktur und der Echternacher Springprozession - zwei Schritte vorwärts, ein Schritt rückwärts - auf.
SchlussfolgerungImplizit basiert die Struktur der niederländischen Gewerkschaften immer noch auf der Ansicht, dass ein Arbeitnehmer grundsätzlich während seines gesamten erwerbstätigen Lebens in einem einzigen Betriebszweig tätig ist. Die Betriebstätigkeit hat diesen Gedanken auf die Vorstellung eingeengt, dass er in im Prinzip während seines gesamten Erwerbslebens in einem einzigen Betrieb arbeitet. In der Praxis war es nie so. Auf jeden Fall entfernt er sich immer weiter von dieser Vorstellung. Anstelle des Begriffs lifetime employment (lebenslange Beschäftigung) tritt die lifetime employability (lebenslange Beschäftigungsfähigkeit). Davon ausgehend müssen die Gewerkschaften die Arbeitnehmer betreuen und deren Interessen vertreten. Immer häufiger sind Arbeitnehmer ja nur befristet in einem Betrieb berufstätig. Je nach dem Beruf, den sie ausüben, wechseln sie vom einen Betrieb zum anderen und vom einen Betriebszweig zum anderen hinüber.
Zwischen den europäischen Gewerkschaften wird immer enger zusammengearbeitet. In der EFBH wurden Initiativen entwickelt, um die Interessen der Gewerkschaftsmitglieder über die nationalen Grenzen hinweg zu vertreten. Denn der europäische Markt ermöglicht es, dass portugiesische Bauarbeiter in Berlin arbeiten, und dass französische Bauunternehmen in den Niederlanden Aufträge ergattern. Bauarbeiter können aber nicht nur in einem anderen Land arbeiten. Zimmerer können in Teams für die Instandhaltung von Krankenhäusern aufgenommen werden und Maler können für ein Theaterensemble als Kulissenmaler tätig werden. Sie können aber auch durchaus aus ihrem Beruf ausscheiden und zum anderen hinüberwechseln. Die niederländische Polizei und die niederländischen öffentlichen Verkehrsmittel haben davon in den vergangenen Jahrzehnten tüchtig profitiert. Immer weniger Leute entscheiden sich in der Oberschule direkt für einen Beruf im Baugewerbe. Der indirekte Einstrom wird zum wichtigsten Einstrom. Diese Feststellung und die Entwicklung, auf Grund derer weniger Leute sich endgültig auf eine Berufswahl - geschweige denn eine Wahl des Betriebszweigs - festlegen, erfordert, dass wir uns ständig eine Struktur überlegen, die eine angemessene Interessenvertretung der wandernden Arbeitnehmer ermöglicht.
Die bisherige Struktur hat das Bewusstsein der Arbeitnehmer verstärkt, dass sie zu einem bestimmten Betrieb bzw. Betriebszweig gehören. Das war auf Kosten der Erkenntnis, dass sie - ungeachtet des Berufs bzw. des Betriebszweigs - viele gemeinsame Interessen haben. Die Rolle der Gewerkschaften ist dank dieser Entwicklung größer geworden und die des Gewerkschaftsbundes hat abgenommen. Der wandernde Arbeitnehmer hat nicht nur Interesse daran, dass die Gewerkschaft im eigenen Betriebszweig im eigenen Land stark vertreten ist, sondern auch sektor- und länderübergreifend. Welche Struktur auch immer zustande gebracht werden sollte, sie muss auf jeden Fall besser dem wandernden international tätigen Arbeitnehmer angepasst sein.
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* Jeroen Sprenger war in den Jahren 1976-1993 unter anderem als Leiter der internen und externen Beziehungen in der Bouw- en Houtbond FNV tätig. Von 1993 bis 1999 war er der erste Sprecher des niederländischen Gewerkschaftsbundes FNV. Zurzeit ist er Direktor Öffentlichkeitsarbeit im Finanzministerium.
i Der Verfasser dieses Artikels basierte auf dem Artikel "Een onooglijk boekje met ingrijpende gevolgen " (Ein niedliches Büchlein mit tief greifenden Auswirkungen), der in H. Klooster, J. Sprenger, V. Vrooland, Het Blauwzwarte Boekje, van beroepsorganisatie naar bedrijfsorganisatie ( Das schwarzblaue Büchlein - vom Berufs- zum Wirtschaftsverband), Barendrecht, 1986, aufgenommen wurde.
ii Siehe E. Hueting, Fr. de Jong Edz., R. Ney, Naar grotere eenheid (Zu einer größeren Einheit), Amsterdam, 1983.
iii In den Niederlanden wurde das allgemeine Wahlrecht für Männer im Jahre 1918 eingeführt. Seit dem Jahre 1922 sind auch Frauen wahlberechtigt.
iv P. Windmuller, C. de Galan, Arbeidsverhoudingen in Nederland (Arbeitverhaeltnisse in den Niederlanden), Utrecht/Antwerpen, 1970.
v H. Amelink, Met ontplooide banieren (Mit entfalteten Bannern), Utrecht, 1950.
vi KAB-Bericht 1939-1947, Utrecht, 1948.
vii A. Leusink, Op hechte fundamenten, Geschiedenis van de Algemene Nederlandse Bouwarbeidersbond (Auf fester Grundlage, Geschichte der Allgemeinen Niederländischen Bauarbeitergewerkschaft), Amsterdam, 1950.
viii Rapport van de Commissie tot het onderzoek van het vraagstuk van de bedrijfstakgewijze organisatie der werknemersvakbeweging (Bericht des Ausschusses zur Untersuchung der Frage der betriebszweigorientierten Organisation der Arbeitnehmergewerkschaftsbewegung), Utrecht, 1946.
ix K. Dijkstra, CNV - Beweging in beweging (CNV, Bewegung in Bewegung), Utrecht, 1979.
x KAB-Bericht 1948-1954, Utrecht, 1955.
xi Siehe E. Hueting, Fr. de Jong Edz., R. Ney, Naar grotere eenheid (Zu einer größeren Einheit), Amsterdam, 1983.
Eerder verschenen in CLR News nr 3, jaargang 2003, Welche Gewerkschaften überleben ?